Fair? Bio? Bürokratie!

Was Fairtrade und Bio im Kaffee wirklich leisten…

Vor über dreißig Jahren war ein Fairtrade Siegel noch ein kleiner Aufkleber mit großer Idee: Gerechtigkeit im globalen Handel, direkt vom Feld bis in die Tasse. Bio? Das war der grüne Gegenentwurf zur chemischen Entfremdung der Landwirtschaft. Diese Siegel haben wertvolle Impulse gesetzt.

Aber sind sie möglicherweise inzwischen Teil einer Illusion geworden? Nämlich der Vorstellung, mit einem kleinen Aufpreis im Supermarkt globale Gerechtigkeit zu kaufen. Die Realität ist komplexer – und weniger schmeichelhaft.

Produzenten tragen die Hauptlast der Bürokratie, erhalten aber nur teilweise die versprochenen Vorteile. Konsumenten erhalten das gute Gefühl, mit dem Kauf etwas zu verändern – während der strukturelle Wandel im Handel oder der Schutz der Natur ausbleiben.

Heute sind Siegel omnipräsent auf Verpackungen, aber selten auf der Seite der Realität der Produzenten. Was als ethische Avantgarde begann, entwickelt sich mehr und mehr zu leeren Worthülsen und Marketing Gimmiks.

Die Anfänge

In den 1970er Jahren begann die erste Welle der Bio Bewegung. Umweltbewusste Verbraucher forderten transparente Produktionsweisen – und die Kaffeebauern in abgelegenen Regionen erkannten schnell, dass sie mit ökologisch erzeugten Bohnen höhere Preise erzielen konnten. Fairtrade folgte in den 1990ern als soziales Pendant, um gerechtere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu garantieren. Beide Zertifikate brachten eine echte Verbesserung für Umwelt und Menschen vor Ort.

Die Voraussetzungen dafür wurden allerdings schon sehr viel früher geschaffen:

1897 wird das erste Reformhaus in Berlin gegründet. Hervorgegangen aus der Lebensreformbewegung, die einen Gegenentwurf zur Menschen und Umwelt verachtenden Industrialisierung darstellte.

  • 1924 Gründung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft (Demeter), ab 1980 professionalisiert, mit eigenem Siegel
  • 1970er Erste alternative Selbstversorger-, Bioläden und Lebensmittelkooperativen
  • 1973 Erster Fair-Trade Kaffeeimport durch die niederländische Organisation Fair Trade Original
  • 1980er Verbreitung von Bioläden, Bioverbänden und Reform-Bio-Handel
  • 1992 Gründung von TransFair Deutschland (Fairtrade)

Die Diversifizierung

Im neuen Jahrtausend kamen immer weitere Siegel hinzu: Rainforest Alliance (2004 fusioniert mit UTZ), Bird‑Friendly, Bio‑Siegel nach EU‑Standard und schließlich unzählige Nischen‑Labels. Jeder neue Stempel versprach Eigentümern, Bauern und Konsumenten zusätzliche Sicherheit: Schutz der Artenvielfalt, garantierte Mindestpreise oder reduzierte Zwischenhändler.

 

  • Angebotsinflation: Mehr als ein Dutzend großer Siegel plus eine wachsende Zahl kleiner Initiativen überfluten heute den Markt.
  • Kostenfrage: Für Kleinbauern ist die Zertifizierung teuer und bürokratisch. Vor allem für Bio und Fairtrade fallen jährliche Gebühren an.
  • Intransparenz: Wer beim Siegelanbieter tiefer gräbt, stößt oft auf intransparente Strukturen und unklare Audit‑Kriterien.
  • Doppelzertifizierung: Viele Kaffeefirmen stapeln Bio, Fairtrade und Rainforest Alliance aufeinander – obwohl sich die praktischen Verbesserungen für Produzenten nur minimal addieren.
  • Marketing: Für große Anbieter und Handelsketten sind Zertifikate mittlerweile vorrangig ein Verkaufsinstrument. Die bunten Logos auf der Verpackung suggerieren Umweltbewusstsein und soziale Verantwortung…
  • Margendruck: Zwischen Großhändlern und Zwischenhändlern schrumpft die Gewinnspanne. Zertifikatskosten werden oft an Bauern weitergegeben – der Mehrpreis beim Endkunden landet selten dort, wo es nötig wäre.
  • Greenwashing: Manchmal genügt allein das abgebildete Logo, um die eigene Marke als „nachhaltig“ zu positionieren, selbst wenn das dahinterstehende Programm kaum kontrolliert oder umgesetzt wird.

Wirtschaftlich

Das Versprechen vom fairen Preis – und die Realität der Zertifizierungsbürokratie

Fairtrade garantiert einen Mindestabnahmepreis, der normalerweise über dem Börsenpreis liegt,  sowie eine Prämie von 0,20 USD/pro Pfund – bei Bio-Fairtrade-Kombination noch einmal 0,30 USD obendrauf. Klingt gut. Wäre es auch – wenn dieser Preis für die gesamte Ernte gelten würde.

In der Praxis aber verkaufen viele Kooperativen nur einen Teil ihrer Ernte zu Fairtrade-Konditionen. Die Gebühren für Zertifizierung, Inspektion und Administration hingegen gelten für die gesamte Produktion. Eine Studie aus Mexiko und Peru zeigte: Nur 18–38 % des produzierten Kaffees werden tatsächlich als Fairtrade verkauft. Der Rest landet auf dem Weltmarkt – ohne Prämie, aber mit Kosten (1). Und die sind nicht trivial: Die jährlichen Gebühren für FLOCert (siehe Abschnitt: „Was sind die wirklichen Kosten“) liegen bei etwa 1.200 EUR, dazu kommen Schulungen, Kontrollbesuche und interne Dokumentationspflichten.

Diese Struktur führt dazu, dass sich Fairtrade vor allem für Kooperativen lohnt, die hohe Volumina zuverlässig im zertifizierten Segment absetzen können. Für die anderen bleibt am Ende ein Logo – und eine Rechnung. Bio-Zertifizierungen nach EU-Standard verursachen ähnliche Fixkosten, ohne jedoch Preisgarantien zu bieten. Hier hängt alles vom Markt – und von der Zahlungsbereitschaft westlicher Konsumenten ab.

Eine unabhängige Untersuchung der Universität Sussex kam bereits 2016 zum ernüchternden Schluss: Die wirtschaftlichen Vorteile von Fairtrade sind in vielen Fällen marginal oder verschwinden durch Verwaltungsaufwand vollständig (2). In Boomzeiten, wenn der Weltmarktpreis über dem FT-Mindestpreis liegt, ist das Siegel sogar ein Nachteil – Bauern verkaufen lieber direkt auf dem freien Markt, während die Kooperative weiter Gebühren bezahlt.

Sozial

Gemeinschaftsprojekte, Mitbestimmung – und Exklusion durch Bürokratie

Fairtrade betont demokratische Mitbestimmung, Gemeinschaftsprojekte und Entwicklungsförderung durch Prämien. Tatsächlich berichten viele Kooperativen über Investitionen in Schulen, Infrastruktur oder Qualitätsprogramme. Soweit, so lobenswert. Aber: Auch hier bleibt der Blick verzerrt, wenn man ihn nur auf Kooperativen richtet.

Denn Fairtrade schließt systematisch genau die Gruppen aus, die am meisten Schutz bräuchten: Landarbeiter auf größeren Farmen, saisonale Kräfte, informelle Produzenten. Und innerhalb der Kooperativen? Eine zehnjährige Feldstudie aus Nicaragua (Mendoza et al., 2021) zeigte, dass Fairtrade- und Bio Zertifizierungen langfristig weder das Haushaltseinkommen steigerten noch Schulbesuch oder Gesundheit messbar verbesserten (3).

Im Gegenteil: Die strengen Anforderungen an Dokumentation, Rückverfolgbarkeit und einheitliche Verarbeitung erhöhten die Abhängigkeit der Landarbeiter von organisierten Kooperativen mit ausgebildetem Personal und senkten die Eigenständigkeit der Produzenten. Kleine, unabhängige Bauern – einst die Zielgruppe – verlieren den Anschluss, weil sie sich die formalen Hürden nicht leisten können.

Auch das Bio-Siegel der EU bietet keine sozialen Sicherheiten. Es garantiert Pestizid verzicht und Gentechnikfreiheit, aber keine existenzsichernden Löhne, keine Arbeitsrechte, keine Teilhabe.

Ökologisch

Sauber auf dem Papier – aber nicht auf jeder Plantage

Die Bio-Verordnung der EU ist streng: kein Glyphosat, kein synthetischer Dünger, keine Gentechnik. Das ist gut – für Umwelt und Gesundheit. Aber: Kontrolliert wird in vielen Ländern nur lückenhaft. Und: Der Umstieg auf Bio-Anbau bringt Ertragsrückgänge mit sich, die gerade bei steigender Nachfrage zu Ausweichbewegungen führen – z. B. auf neue Flächen.

Das Ergebnis? Entwaldung, um „nachhaltig“ zertifizierten Kaffee anzubauen. Laut einer WWF-Studie (2022) wurden allein in Peru und Honduras zwischen 2001 und 2018 über 170.000 Hektar Wald für Kaffee gerodet – teils auch durch Bio-Produzenten (4). Der Unterschied zwischen Siegel und Realität ist also auch ein ökologischer.

Fairtrade wiederum ist primär ein Sozialstandard, enthält aber Umweltkriterien – etwa zur Bodennutzung, Wasserverbrauch und dem Verbot besonders giftiger Pestizide. Doch diese sind vage formuliert und schwächer als bei Bio. Und: FLOCert prüft in der Regel auf Ebene der Kooperative, nicht auf der individuellen Parzelle. Die Einhaltung bleibt oft Vertrauenssache – oder fällt dem Rotstift zum Opfer.

Ab 2025 wird es für viele Kooperativen noch schwieriger: Die EU verschärft die Bio-Verordnung für Importe. Nur noch Kleinstbetriebe (< 5 ha, < 25.000 € Umsatz) können günstiger als Gruppe zertifiziert werden. Das bedeutet das Aus für zahllose zertifizierte Kooperativen in Lateinamerika und Afrika, die bislang über Gruppenzertifikate wirtschaftlich arbeiteten konnten (5).

Was sind die wirklichen Kosten?

Und wer verdient daran?

Oft wird übersehen: Die Betreiber vieler Zertifikate sind wirtschaftlich arbeitende Organisationen – keine NGOs im klassischen Sinn. Fairtrade International (Sitz: Bonn) ist eine Multi-Stakeholder-Organisation mit NGO-Status, betreibt aber mit FLOCert eine hundertprozentige Tochterfirma, die als gewinnorientiertes Unternehmen die Kontrollen durchführt – zu Marktpreisen. FLOCert zertifiziert nicht nur für Fairtrade, sondern bietet auch andere Audits an – ein Geschäftsmodell, das mit jeder Siegelverbreitung wächst.

Noch undurchsichtiger ist das System beim EU-Biosiegel. Hier schreibt die Verordnung vor: Jedes einzelne Glied der Lieferkette – vom Bauern bis zum Röster – muss sich separat zertifizieren lassen, inklusive Händler und Lagerhalter. Das bedeutet: Selbst wenn ein Kaffee biologisch produziert wurde, darf er nicht als Bio verkauft werden, wenn auch nur ein Zwischenhändler nicht zertifiziert ist. Die Zertifizierungskosten entstehen also mehrfach – und summieren sich.

Gleichzeitig ist kaum nachvollziehbar, wie diese Gelder verwendet werden. Es gibt keine öffentlich einsehbare, zentrale Übersicht über Einnahmen und Ausgaben der verschiedenen Kontrollstellen. Transparenz? Fehlanzeige. Die Kostenstruktur ist ein Dschungel aus Zertifizierungsstellen, Subunternehmern, nationalen Behörden und Gebührenverordnungen – meist auf den letzten Seiten, kleingedruckt. Für viele Produzenten bleibt das Siegel damit nicht nur teuer, sondern auch intransparent.

Fazit

Wer wirklich etwas ändern will, sollte über Logos hinaus denken. Direct Trade, transparente Lieferketten, Qualität vor Quantität – und die Einsicht, dass kein Aufkleber auf einer Packung das ersetzen kann, was echte Handelsgerechtigkeit erfordert: Zeit, Geld und Wertschätzung.

Detlef

Dr. Kaffees Röstorium

 


Quellen (Auswahl):
¹ Dietz, Simon et al. (2018): “Fairtrade certification and the price, quality and distribution of coffee: Evidence from a field experiment.” University of Sussex
² Dragusanu, Raluca et al. (2014): “The Economics of Fair Trade.” Journal of Economic Perspectives
³ Mendoza, Ronald et al. (2021): „Do sustainability standards benefit smallholders?“ Zehnjahresstudie in Nicaragua.
⁴ WWF (2022): „Kaffeeboom auf Kosten des Waldes“ – Entwaldungsrisiken in der Kaffeeproduktion.
⁵ Fairtrade Deutschland (2023): „EU-Bio-Reform gefährdet Zertifizierung von Kleinbauern.“